Friedrich-H.-Tenbruck-Archiv

Kurzbiographie

Friedrich H. Tenbruck und die Sozialwissenschaften nach 1945

Die Geschichte der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert ist in keinem anderen Land von ähnlichen Brüchen durchzogen wie in Deutschland. Während die Kontinuitäten und Diskontinuitäten um das Jahr 1933 aus den verschiedenen Perspektiven der Fachgeschichte unterschiedlich bewertet werden, ist der Bruch nach 1945 weitgehend unumstritten, der am prägnantesten mit der Formel "von der deutschen Soziologie zur Soziologie in Deutschland" (M. R. Lepsius) beschrieben wird. Diese Formel deckt freilich nur die Entwicklung bis zum Beginn der sechziger Jahre ab, als einerseits die Rekonstruktion der marxistisch orientierten Soziologie der 20er Jahre im Gefolge der "Frankfurter Schule" und des "Positivismusstreites", andererseits die Wiederentdeckung der Klassiker deutscher Soziologie (Weber, Simmel, Tönnies) zu einer Neuorientierung an spezifisch deutschen sozialwissenschaftlichen Traditionen führte.

Es gibt wenige Soziologen von Rang, die diesen doppelten Übergang in ihrer wissenschaftlichen Biographie so repräsentieren wie Friedrich H. Tenbruck. Dies zeigen die verschieden Stationen seiner Biographie: Als Schüler des Germanisten Max Kommerell und des Philosophen Julius Ebbinghaus' mit einer Dissertation über Kants "Kritik der reinen Vernunft" promoviert, war, wie bei den meisten Sozialwissenschaftlern seiner Generation, Tenbrucks universitäre Bildung nicht durch das Fach geprägt, das er später repräsentierte. Geisteswissenschaftliche Grundbildung und philologische Methode bildeten einen Grundstock seines wissenschaftlichen Arbeitens, der in allen Phasen seiner Biographie prägnant blieb. In den Jahren zwischen 1946 und 1950 distanzierte sich Tenbruck zunehmend von den traditionellen deutschen Geisteswissenschaften, deren Begriffe nun veraltet und deren Wissensformen der modernen sozialen Realität nicht mehr angemessen erschienen.

In den neueren Entwicklungen der amerikanischen Sozialwissenschaften sah Tenbruck eine Möglichkeit, dieses Defizit zu beheben. An der University of Virginia in Charlottesville arbeitet er sich während seiner Post-doctoral-studies in die empirischen Sozialwissenschaften ein und befaßte sich mit Wahrscheinlichkeitstheorie und den Methoden der amerikanischen Sozialforschung. Aus Amerika zurückgekehrt, übernahm Tenbruck den Posten eines "Consultant in Higher Education" in der HICOG und beriet in dieser Funktion die amerikanische Besatzungsmacht beim Aufbau eines demokratischen Hochschulwesens. Nach einer kurzen Tätigkeit als persönlicher Assistent von Max Horkheimer in Frankfurt, wo er an der empirischen Studie über die Lage an den deutschen Hochschulen mitarbeitete, lehrte er als Assistant-Professor erneut in den USA an den Hobart and Smith Colleges in Geneva/New York. Ab 1960 ermöglichte ihm ein DFG-Stipendium die Habilitation bei Arnold Bergsträsser in Freiburg.

In seiner Habilitationsschrift über "Geschichte und Gesellschaft" versuchte er die erste große Synthese von amerikanischer Soziologie (mit ihren einerseits kulturanthropologischen, andererseits sozialstrukturellen Interessen) und den aus der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition stammenden Einsichten in die Zusammenhänge und Bedingungsgefüge geschichtlichen Werdens. In diese Zeit fallen auch einige, teils groß angelegte empirische Studien (Karlsruher Gemeinde-Studie). Diese breite Orientierung sowohl an den empirischen Methoden als auch an den Theorien amerikanischer Sozialwissenschaft verhinderte jedoch nicht, daß Tenbruck überall dort die geisteswissenschaftliche Substanz der Soziologie verteidigte, wo er ihr humanitäres Kapital durch einseitige Verabsolutierung in Gefahr sah, wie 1961 im Ausbau der Rollentheorie zu einer Art 'Weltanschauung' oder 1972 in den ausufernden Hoffnungen auf wissenschaftlich angeleitete gesellschaftliche Planung. Nach Helmut Schelskys Erinnerung brach Tenbruck als erster aus dem breiten Nachkriegskonsens aus, der "… die Originalität und Problemeinheit einer 'deutschen Soziologie' seit Max Weber oder Simmel zu Grabe getragen" hatte. Mit seinen Aufsätzen seit 1957 über Simmel und Weber stieß Tenbruck die Wiederentdeckung dieser Klassiker, die über eine fachhistorische Abgrenzung von ihnen hinausreichte und systematische Theoriebestandteile aufgriff, wesentlich mit an; denn die Einseitigkeiten einer von Kultur und Geschichte losgelösten Theorie der Gesellschaft könnten das Subjekt nicht zu einem Handeln aus eigener Einsicht bewegen. Aus der Beschäftigung mit den Klassikern der älteren deutschen Soziologie heraus formulierte Tenbruck dann wichtige Grundlagen dessen, was unter dem Stichwort "Kultursoziologie" zu einer erneuten Rezeption der deutschen Soziologie führte. Der Kultursoziologie wurde von Tenbruck die Aufgabe gestellt, die einseitig strukturbezogene Soziologie zu ergänzen, um den Mangel an Wirklichkeitsgehalt ihrer Theorien zu überwinden und sie aus der Verkümmerung ihres Gesellschaftsbegriffes zu befreien. Rekapituliert man diese Entwicklung Tenbrucks vom Philosophen geisteswissenschaftlicher Prägung über den an amerikanischen Methoden und Theorien orientierten Soziologen bis zum Kultursoziologen so zeigen sich exemplarisch die wesentlichen Brüche der Sozialwissenschaften in Deutschland nach 1945. Diese Spannung macht nun den wissenschaftlichen Nachlaß Friedrich H. Tenbrucks zu einer einzigartigen Quelle, aus der nicht nur die persönliche Genese, die Interessen und Arbeitsweisen eines Gelehrten mit fächerübergreifendem Horizont rekonstruiert werden kann, sondern wesentliche Etappen in der Entwicklung der Sozialwissenschaften in Deutschland im 20. Jahrhundert.